Es ist vielleicht ein Heimatprojekt. Nein, irgendwie nicht. Das Wort Heimat ist mir fremd. Heimat, das fühlt sich so altmodisch und konservativ an. „Home is where my heart is“ (Patti Smith). Zuhause in Berlin Kreuzberg.

Fast jeder ist heutzutage mit einer Kamera unterwegs, möchte das Gesehene in Bildern festhalten, um es wahrscheinlich im Datensammelsurium für immer verschwinden zu lassen. Manche zeigen ihre Eindrücke auf sozialen Netzwerkseiten, wie Facebook, diversen Blogs und MySpace den „Freunden”, aber es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit diese Internetriesen es schaffen werden, diese Bilderflut in 30 Jahren aufzuzeigen.
In unserem digital geprägten Zeitalter wird es in 30 Jahren wahrscheinlich nicht allzu viele Kisten mit Bildern und Briefen von meiner Generation geben, die man in einem Nachlass- und Trödelladen durchstöbern kann. Dann werden es Festplatten und USB-Sticks sein, auf denen wir Teile unseres Lebens abgespeichert haben, die man auf gut Glück für ein paar Euro mit nach Hause nehmen wird. Dabei bleibt jedoch die sinnliche Neugierde auf der Strecke. Und was wäre, wenn diese Datenträger, alle formatiert, in einem Zweite-Hand-Elektrogeschäft erneut angeboten werden? Die Vorstellung finde ich äußerst langweilig. Ich habe gezielt eine Auswahl von Bildern, Orten und persönlichen Geschichten getroffen, um einen Eindruck davon zu ermöglichen, wie ich meinen Kiez im Jahr 2011 wahrgenommen habe. Es wird persönlich, aber nicht intim. Ich gebe Einblick in eine Welt, in der ich mich aufhalte. Ich zeige Menschen, die mir nahe sind, und Menschen, denen ich mich nähere. Versteckte Orte und belebte Plätze.
Ich habe viele Gespräche mit Freunden und Familie darüber geführt. Was macht den Zeitgeist aus? Paare, Menschen auf der Straße, Transit-Orte, wie U-Bahnhöfe und Busstationen. Gespräche unter Freunden. Briefe, Emails, SMS. Der Sound der Straße und der Orte. Das Marktgeschrei und die Geräuschkulisse in einer Bar.

Von der Idee beflügelt, meinen Kiez zu konservieren, damit er in 30 Jahren durch Dinge, Fotos und Sounds nachempfunden werden kann, entwickelte ich das Ausstellungskonzept Kiezliebe. Das Projekt hat den Anspruch, einen von der Gentrifizierung gezeichneten Kiez einzufangen und auszustellen.
Die Auswahl der zu archivierenden Dinge soll sich darauf konzentrieren, ein Stimmungsbild zu erzeugen und in einem Kontext nachempfindbar zu machen. All das, was wir jetzt sammeln, einstecken und aufbewahren, wird später ein Stück Lebensart vergangener Zeiten widerspiegeln. Es wird uns helfen zu erinnern. Es muss sorgsam und bedacht ausgewählt werden. Ich möchte jeweils einen kreativen Menschen in den Städten dieser Welt auf Spurensuche und Konservierungsmission schicken, damit weitere Kisten mit zauberhaften Momenten und Orten befüllt werden. Als ganz besonders wichtig zu konservieren erachte ich Kieze, in denen akute Gefahr besteht, dass sie sich in naher Zukunft verändern und ihren Charakter aufgrund von Modernisierung verlieren werden. Die Viertel, die mich für mein Projekt interessieren, sind solche, in denen sich viele Künstler und Kreative aufgrund von niedrigen Mieten und Leerstand von Wohnraum angesiedelt haben. Durch sie wird der Kiez aufgewertet und das Stadtbild verändert sich positiv. Neue Bars und Ateliers entstehen, der Kiez wird zunächst zum Geheimtipp der Szene. Er wird durchmischt. Irgendwann kommt dann der Zeitpunkt, an dem es umkippt. Der Geheimtipp wird zum Mainstream. Trendguides preisen den Kiez als angesagten Ort an, Hostels und Hotels siedeln sich an, die Häuser werden saniert. Im schlimmsten Fall werden die Mietwohnungen zu Eigentumswohnungen umstrukturiert und die Mieten unbezahlbar für diejenigen, die diese Dynamik ausgelöst haben, und für diejenigen, die vor ihnen schon da wohnten. Es ist ein Prozess, der nicht nur nicht aufzuhalten ist sondern auch ebenso wenig rückgängig gemacht werden kann.

Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, ein Ausstellungskonzept zu entwickeln, um den Zeitgeist dieser Kreativ-Kieze einzufangen und somit zu bewahren. Es geht darum, den Moment zu konservieren, in dem der Kiez durch die vielen Künstler belebt und attraktiv geworden ist, in dem seine Bewohner kurz davorstehen oder schon dabei sind, ihr Revier gegen Investoren und neuzugezogene Besserverdienende, die sich in diesem spannenden Kiez ausbreiten, zu verteidigen. Der Kiez soll genau in diesem Schwebezustand festgehalten werden. Damit ist der Zustand zwischen zwei Räumen gemeint, wenn das kreative Potenzial fast vollständig ausgereizt wurde, sich jedoch noch nicht vollends als solches manifestiert und etabliert hat.
Der Grenzstatus macht genau diesen Reiz aus. Dass sich eine Stadt verändert und umstrukturiert wird, ist ein gängiges Phänomen. Die kreative Szene passt sich diesen Umständen an und muss sich immer wieder einen neuen Ort suchen, an dem sie sich verwirklichen kann. Die Intensität und Schnelllebigkeit dieser Kieze macht es so wertvoll, sie gestalterisch zu konservieren.

Die KIEZLIEBE-Anleitung:

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